In fünf Tagen erschafft Gott die Welt. Er begint mit der Erde und dem Licht am ersten Tag, und schafft an den folgenden Tag den Himmel, die Vegetation, das Firmament (d.h. das Universum) und schliesslich die Vögel und Fische. Am sechsten Tag schafft er neben den Tieren auch den Menschen, Adam und Eva. Am siebten Tag ruht er – die erste Arbeitswoche ist um. In der zweiten Woche beginnt sich die uns bekannte Welt zu drehen. Wegen dem Tipp der Schlange und dem darauf folgenden Biss in einen saftigen Apfel ist auch bei uns nicht mehr jeden Tag Sonntag, sondern wir leben in Arbeitswochen. Eine wunderschöne Geschichte, die den Beginn des Katholizismus markiert. Zumindest ist das der Beginn der Welt im Selbstverständnis der katholischen Kirche. Aber das ist nicht das Thema, zumindest nicht hauptsächlich.
Jedenfalls ist unsere westliche (im Kern griechische) Kultur in den Jahrtausenden vor Christus in Mythen und Legenden gefangen. Praktisches, anwendbares Wissen ist zwar vorhanden, aber die Kenntnis der Zusammenhänge und eine anerkannte und systematische Methode zur Erlangung von gültigem Wissen neben der Religion gibt es nicht.
In Griechenland entwickelt sich im letzten Jahrtausend vor Christus eine Gegenbewegung zu den dort bis dahin gültigen Mythen und Überlieferungen. Die klassische griechische Wissenschaft entsteht und bringt Grössen wie Pythagoras und Thales hervor, später Sokrates, Platon und Aristoteles. Auch wenn diese Wissenschaft vor allem philosophisch orientiert ist, bringt sie doch auch technische Errungenschaften hervor. Als Beispiel seien hier Leuchttürme genannt. Der älteste bekannte Leuchtturm wird schon 280 v. Chr. auf der Insel Pharos bei Alexandria errichtet und dient als Vorbild für alle weiteren Leuchttürme.
Im Westen wächst dann im Mittelalter der Katholizismus zur zentralen, alles beherrschenden Macht heran. Auch die Wissenschaft steht unter der Schirmherrschaft der Kirche. Auch hier entwickelt sich praktisches Wissen1:
- 3. Jh.: Berechnung des Erdumfanges durch Erathostenes: 39‘690km (nach heutiger Messung beträgt er 40‘075km)
- 6. Jh.: Hebemaschinen, eine Kombination aus Hebel, Winde und Flaschenzug (Trispastos)
- 11./12. Jh.: senkrechte Wasserräder mit Nockenwellen, welche die Kreisbewegung in eine Auf-und-ab-Bewegung übersetzen konnten. Dies waren die Maschinen des Mittelalters
- 13. Jh.: Räderuhr
Eine eigentliche Wissenschaft nach heutigem Verständnis gibt es jedoch nicht. Die Alchemisten sind wohl die ersten Vorläufer. Diese erste Generation von „Wissenschaftlern“ glaubt daran, aus wertlosen Substanzen Gold machen zu können. Auch ihr „Wissen“ entspringt also Mythen und Legenden – und nicht einer wissenschaftlichen Herangehensweise.
Erst im 16./17. Jh., zur Zeit der Renaissance, entwickelt sich nach und nach die moderne Wissenschaft. Sie kennzeichnet sich dadurch aus, dass sie die Erlangung von Wissen systematisch angeht. Im Vordergrund steht also die Methode zur Erlangung von Wissen. Als sicherster Weg zur Erkenntnis der „Natur an sich“ erscheint Francis Bacon (und seinen Zeitgenossen) die auf Beobachtung und Experiment gegründete und von Tatsache zu Tatsache behutsam vorwärtsschreitende Induktion2. Gepaart mit der Logik und deren strengen Schlussregeln sehen wir hier die Geburtsstunde der modernen Wissenschaft.
Diese wissenschaftliche Methode wird nun nach und nach entwickelt3:
- schon 1590 führt Francis Bacon das kontrolliertes Experiment ein, bei dem jeweils nur eine Variable angepasst wird
- 1665 forderte Robert Boyle die Wiederholbarkeit naturwissenschaftlicher Experimente
- 1752 wurden peer-reviewd Journals eingeführt. Damit kam eine weitere Ebene der Validierung und Bestätigung über das geteilte Wissen hinzu
- 1885: Der Zufall wird in den Experimenten mitberücksichtigt
Errungenschaften dieser Methode sind beispielsweise das Morsen 1833 die Erfindung des Telefons durch Bell und Vorläufer im Jahre 1876. Später kommen das Internet und damit E-Mail hinzu.
Diese Objektivität, der sich die Wissenschaft zu verschreiben beginnt, ist auf den grossen Einfluss der Kirche zurück zu führen. Aber die Trennung von Kirche und Wissenschaft ist unvermeidlich, aber nicht einfach. Schön dazu die Legende, wonach Galileo Galilei, nach dem er vor der Kirche seiner Lehre von der Erdbewegung abgeschworen hatte, den Ausspruch „und sie bewegt sich doch“ getan habe.
Da die Kirche nach wie vor die Autorität über die Seele des Menschen beansprucht, bleibt den Wissenschaften nur die Flucht in die seelenlose Objektivität. Damit findet eine Trennung statt, die bis heute stark spürbar ist: Die Seele „gehört“ der Kirche, den Naturwissenschaften bleibt nur das seelenlose, unbeseelte Welt. Beispielhaft sieht man diese Trennung in der Medizin. Die medizinische Heilung des Menschen wird von seinem seelischen, psychischen Wohlbefinden getrennt behandelt. Der „Medizinmann“ wird also zweigeteilt, einerseits der klinische Arzt, andererseits der Priester. Damit werden die Naturwissenschaften auch von den Emotionen getrennt – seelenlos also im doppelten Wortsinn.
Doch auch diese beabsichtigte klare Trennung zwischen Kirche und Wissenschaft konnte nicht verhindern, dass die Naturwissenschaften mit der Zeit die Autorität der Kirche untergruben und die weltliche Macht übernahmen.
Der Wiener Kreis schliesslich vollendete die Spaltung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, indem die Protagonisten die Trennung von Denken und Rhetorik forderten. Wissen kann nach ihnen nur entweder induktiv oder deduktiv erlangt werden – das fordert das Denken. Rhetorik hingegen sollte auf Literatur und Poesie beschränkt werden. Schön formuliert das Wittgenstein im Tractatus Logico Philosophicus4: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“.
So vervollkommnet sich die wissenschaftliche Methode zusehends:
- 1932: Karl Popper prägt die Ansicht, dass jedes gültige Experiment widerlegbare Testmöglichkeit haben muss
- 1946: Computer Simulationen ergänzen die wissenschaftliche Methode
- 1952: double-blind Experimente werden eingeführt
- 1974: Meta-Analysen werden durchgeführt.
Und heute?
Heute hat alles seine naturwissenschaftliche Spezifikation. Jedes Ding hat seinen Preis, seine Spezifikation und daraus folgende sein Preis-/Leistungsverhältnis. Ein Mobiltelefon bspw. ist definiert durch die Standby-Zeit, den Prozessor, das Display, die Sensoren, und so weiter5. Es gibt also klare Spezifikationen, die man vergleichen und aufgrund derer man sich für das eine oder andere Modell entscheiden kann. Klare Sache, könnte man meinen. Und dann passiert etwas völlig unerwartetes: Im Jahre 2008 trat ein Mobiltelefon einen beispiellosen Siegeszug an.
- Die Standby-Zeit war kürzer als bei vergleichbaren Modellen
- Die Kamera war mit 2MB schlechter als bei vergleichbaren Modellen
- Es hatte viel weniger Speicherplatz als vergleichbare Modelle
Aber: es hatte eine Geschichte, einen Mythos, ein Geheimnis, aber vor allem: es war verbunden mit Emotionen. Das iPhone wird von Beginn weg umgeben von einer Aura, wie sie nur von guten Geschichten und Emotionen geschaffen werden kann. Steve Jobs und Apple haben diese Aura meisterhaft geschaffen und damit den grössten Negativpunkt der Naturwissenschaften ausgehebelt: Mit dem Erfolg der Naturwissenschaften geht nämlich einher, dass sie immer dynamischer und komplexer wird. Bei zunehmendem Tempo und zunehmender Komplexität wird das, was wir wirklich wissen – also gedanklich durchdrungen haben – immer kleiner. Wir sind zunehmend umgeben von Black Boxes. Wir integrieren sie nur noch hinsichtlich des In- und Outputs in unsere Überlegungen und sind je nach dem überrascht oder verärgert über den Output dieser Maschinen. Der Teil, den wir einfach glauben müssen, ohne die Erklärung zu verstehen, wird immer grösser. 6. Damit kommt dem Erklärenden eine höhere Bedeutung zu als ihrer Erklärung.
In Zukunft müssen wir wieder mehr mit Bildern und Emotionen überzeugen als mit Argumenten.
Und damit sind wir an einem historisch interessanten Punkt angelangt. Es ist offensichtlich nicht so, dass wir uns wegen der Naturwissenschaft weiter und weiter weg vom Ursprung bewegen, das Gegenteil ist der Fall. Es dreht sich eben immer weiter: die Legenden und Mythen, die das Leben bestimmten, wurden nicht abgelöst, sondern ersetzt durch neue.
Es gibt übrigens einen mathematischen Begriff dafür: Ergodizität. Sie besagt, vereinfacht gesagt, dass ganz lange Muster sich schliesslich alle gleichen. Und was ist denn das Leben und die Evolution anderes, als eine langes, sich spiralförmig (also auf immer höherem Niveau) wiederholendes Muster7.
Das Wichtigste ist nach wie vor, schon seit eh und je, eine gute Geschichte! Darum habe ich auch mit Adam und Eva begonnen: Schöpfungsmythen sind stärkere Geschichten und viel emotionaler als die Urknalltheorie. Oder wer kann sich schon vorstellen, wie es vor 13,7 Milliarden Jahren (±0,2 Milliarden Jahren) zu einem Urknall kommt, bei dem die Temperatur (1032 Kelvin) und Dichte (1092 Gramm/cm3) unvorstellbar gross sind bei einer minimalen von 10-33 cm.
Und aus diesem Knall soll schliesslich, eben 13,7 Milliarden Jahre (±0,2 Milliarden Jahre) später, ein iPhone entstanden sein…
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- Ebers / Melchers / Pawelke, WissensWelten Philosophie ↩
- Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit ↩
- Kevin Kelly, What Technology Wants ↩
- Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung (edition suhrkamp) ↩
- als Beispiel die Spezifikation des Mobiltelefons HTC Desire Z ↩
- Dies ist schön dargestellt bei Krogerus / Tschäppeler, 50 Erfolgsmodelle. Kleines Handbuch für strategische Entscheidungen ↩
- Nassem Nicholas Taleb, Narren des Zufalls: Die verborgene Rolle des Glücks an den Finanzmärkten und im Rest des Lebens ↩