In seinem Buch Fast im Jenseits: Oder warum Gott Frankenstein liest beschreibt David Eagleman mögliche Szenarien, was uns nach dem Tod erwarten könnte. Vor allem ein Szenario, überschrieben mit „Spiegel“, hat mich zum Nachdenken angeregt:
Wenn du stirbst, bist du noch nicht tot. Sterben ist ein zweistufiger Prozess. Nachdem du also das erste Mal gestorben bist, wachst du in einer Art Zwischenreich auf, in dem sich auch alle Menschen versammelt haben, mit denen du je Kontakt hattest im Leben.
Jeder Mensch hat viele Facetten. Auch du. Da du jedoch immer in deinem Kopf lebtest, fiel es dir leichter, die Wahrheit über andere Menschen zu sehen als über dich selber. So warst du gezwungen, dein Leben mit Hilfe anderer Menschen zu leben, die Spiegel für dich hochhielten. Manchmal hast du diese Spiegel ignoriert, sie für falsch gehalten und dich nicht danach gerichtet. Du hast deshalb gewisse Spiegelungen anderer Menschen über dich ausgefiltert. Andere wiederum hast Du angenommen und Dich danach gerichtet. Zusammengenommen bleibt aber die Erkenntnis, dass sich der grösste Teil deines Lebens in den Köpfen anderer Menschen abgespielt hat.
Im Zwischenreich, in dem du nach dem ersten Sterben angekommen bist, werden nun diese Fragmente von dir selbst, die auf all diese Köpfe verteilt sind, gesammelt, zusammengetragen und zusammengesetzt. Ohne deinen eigenen Filter siehst du dich das erste Mal klar, ungefiltert. Du siehst zum ersten Mal die Wahrheit über dich. Und das erst tötet dich endgültig.
Diese Idee, die Eagleman hier skizziert, ist faszinierend. Sie zeichnet ein Bild von uns, das unserem gängigen Verständnis zuwider läuft. Wohl sind wir uns bewusst, dass andere Menschen ein Bild von uns haben. Hat jedoch jemand ein Bild von uns, das nicht unserem Selbstbild entspricht, neigen wir zur Annahme, dass das daher rühre, dass der andere uns nicht richtig kenne. Würde er uns nur wirklich kennen, so denken wir, so müsste er sein Bild von uns anpassen. Wir gehen also davon aus, dass nur wir selber uns wirklich kennen, da nur wir selber alle Facetten von uns wahrnehmen können. Diese Vorstellung scheint uns intuitiv richtig zu sein, obwohl wir uns immer nur aus der gleichen, einzig möglichen Perspektive wahrnehmen. –
Demgegenüber besteht eine wirkungsvolle und relativ bekannte Problemlösetechnik darin, die Perspektive zu wechseln, das Problem aus einem anderen Blickwinkel anzuschauen. Wenn man sich in eine andere Person versetzt und sein Problem aus deren Blickwinkel betrachtet, dann kann das helfen, klarer zu sehen, neue Zusammenhänge wahrzunehmen und dadurch das Problem schliesslich lösen zu können. Auch das scheint intuitiv richtig zu sein.
Es gibt hier also einen kleinen Widerspruch: Grundsätzlich sind wir der Meinung, dass ein Perspektivenwechsel zu mehr Klarheit führt, uns also der Wahrheit näher bringt. Diesen Schritt jedoch sind wir nur in bestimmten Situation bereit zu machen, eben dann, wenn wir vor einem für uns unlösbaren Problem stehen.
Diesen Widerspruch kann man nur dann aufheben, wenn man anerkennt, dass andere häufig besser sehen als man das selber tut. Wenn es um uns selber geht, kann man die Perspektive nicht wechseln. Wir sind in unserem Kopf drin (so zumindest die Wahrnehmung in der westlichen Welt) und von dort aus nehmen wir alles uns Betreffende wahr.
Zwar anerkennen wir, dass andere Leute ein anderes Bild von uns haben könnten, behalten uns die Wertung über diese Fremdbilder jedoch entschieden selber vor. Und genau an diesem Punkt könnten wir irren. Ein faszinierender Gedanke jedenfalls!
Man nimmt sich selber, das ist klar,
Sehr eingeschränkt nur immer wahr.
Doch andere sehen viele Seiten,
Drum hör auf sie doch schon bei Zeiten.
8/52