Ein tiefer Blick, ein langer Kuss, eine heisse Nacht. Am andern Morgen beim Frühstück war es geschehen. Liebe Toastmasters, geschätzte Gäste, was da beim Frühstück geschehen war, das war ich: Sohn meine Vaters, von dem ich meine Frisur und den Humor geerbt habe, und meiner Mutter, die mir meine überragende Intelligenz und meine Bescheidenheit vererbt hat. Allerdings ist „Erben“ ein falsches Wort, denn mein Vater hat seine Glatze noch und meine Mutter ihre Bescheidenheit auch. Richtiger wäre der Begriff „Kopieren“, ich bin eine Kopie meiner Eltern – jeder ist eine Kopie seiner Eltern.
Und ich habe es weit gebracht in meinem Leben, in manchen Bereichen weiter als meine Eltern. Wenn ich also weiter gekommen bin, so deshalb, weil ich auf den Schultern meiner Eltern stehe – anders gesagt: Wenn ich weiter gesehen habe, so deshalb weil ich auf den Schultern von Riesen stand. Wisst ihr, von wem dieser Satz ist? Er wird Isaac Newton zugeschrieben (Ende 17. Jh.). Aber: Vor ihm haben diese Metapher schon der englische Schriftsteller Robert Burton, der spanische Theologe Diego de Estella, der französische Philosoph Bernhard von Chartres und der römische Dichter Lucan verwendet. Angeblich geht die Metapher zurück auf den Mythos von Kedalion, der auf den Schultern des blinden Riesen Orion sass und ihn führte. (mehr dazu)
Ihr seht an diesen beiden einfachen Beispielen, dass unser ganzes Leben geprägt ist von Kopien: in der Biologie mit der menschlichen Fortpflanzung, im kulturellen Bereich von Redewendungen über Musik und Geschichten bis zur Wissenschaft, aber auch in der Technik, vom steinzeitlichen Faustkeil zum Raupenschaufelroboter
Und das Internet hat uns erst recht zu einer copy-paste-Gesellschaft gemacht. Es deckt die gesamte Breit von Kopien ab, von der reinen Vervielfältigung bis zur kreativen Adaption. Das Internet ist daher eine Kopiermaschine, aber auch ein globaler Mixer, der neue Kultur, neues Wissen, neue Ideen produziert. Aber spätestens im Internet beginnen die Probleme mit der Kopie, Stichwort Raubkopierer und Raubkopien. Auf dem Internet kann man ohne direkte Kosten identische Kopien herstellen – und diese gegebenenfalls weiter bearbeiten. Das ist rechtlich nicht unproblematisch. Obwohl es so einfach ist und jeder es macht, widerspricht das Kopieren von Inhalten auf dem Internet häufig der geltenden Rechtsordnung.
Irgendwie passt also das geltende Recht nicht zum Internet und dessen Umgang mit Kopien. Es ist veraltet und man ist sich einig, dass es den neuen Gegebenheiten angepasst werden muss. Nicht ganz einig ist man sich in der Frage, wie das zu geschehen habe.
Wer in der grossen weiten Welt etwas ändern will, der beginnt am besten bei sich selber. So kann man auch das Recht ändern, denn das Recht bildet die gesellschaftliche Realität ab, und wenn die sich ändert, dann ändert sich das Recht mit. Es braucht ein Umdenken. Als erstes müssen wir die Ehrfurcht vor dem Original ablegen. Wir müssen wegkommen von der schwarz-weiss-Unterscheidung Original-Kopie. Es gibt nicht DAS Original, es gibt bloss unterschiedliche Versionen, die mehr oder weniger originell sind. Nichts ist je fertig, alles ist Endpunkt und Anfangspunkt in einem, Original und Kopie.
So wie es beispielsweise Newtons Zitat es in Versionen gibt, wie wir gesehen haben. Meine Version lautet: Auf den Schultern der Eltern sieht man weiter. Kurz: Es gibt keine Originale, nur verschiedene Versionen!
Daraus folgt, dass es auch keine Original als Produkt geben kann, weil ja eben jedes Produkt bloss eine Version ist. Wertvoll ist nicht das Produkt, sondern der Entstehungsprozess der Versionen, die Produktion. Statt also ein willkürlich ausgewähltes Produkt ins Zentrum zu stellen, sollten wir uns auf die Produktion konzentrieren. Diesen Gedanken kann man auf dem Internet auch schon in die Tat umsetzen, beispielsweise mit Kickstarter.
Mit diesen Änderungen in unseren Köpfen können wir die Welt verändern, langsam, aber sicher und nachhaltig.
Es gibt keine Originale, nur Versionen. Man soll die Produktion wertschätzen, nicht das Produkt. Die Natur hat das schon lange gemerkt und kann uns da als Vorbild dienen. Schauen wir beispielsweise uns Menschen an: Das man selber bloss eine Version ist merkt man spätestens dann, wenn man sich genauer anschaut: es gab und gibt mich als Dreikäsehoch, Neunmalkluger Teenager, fünffacher Patenonkel, Sohn, potentieller Vater, Mitarbeiter, … Welches soll da das Original sein?
Und das mit der Produktion, die wir wertschätzen sollen, das praktizieren wir schon lange… naja, ihr wisst schon: Ein tiefer Blick, ein langer Kuss, eine heisse Nacht. –
Zu denken, was da sei von Wert,
Sei das Produkt, das ist verkehrt!
Das was jedoch verdient den Lohn,
Das ist die Produktion.
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