Gedanken zur EU-Forderung nach einem „Recht auf Vergessen“ im Internet.
Das Internet wird gelegentlich mit einem weltumspannenden Hirn verglichen. Es zumindest als Gedächtnis der Menschheit zu bezeichnen ist naheliegend. Und von da ist es nur noch ein kleiner Schritt, auch die Lerngewohnheiten des Internets mit denen des menschlichen Hirns zu vergleichen.
Lernen heisst nach landläufiger Ansicht, im Kopf ein Gedankengebilde bauen, eine mentale Repräsentation des Lernstoffes. Und Vergessen ist dann der Prozess, bei dem dieses Gebäude wieder zerfällt. Robert Bjork, Director des UCLA Learning and Forgetting Labs und Professor für Psychologie, sagt in einem Wired Artikel, häufig sei das genaue Gegenteil der Fall. Wenn wir etwas lernen, so Bjork, dann vergessen wir das tatsächlich nie mehr. Vielleicht können wir uns nicht mehr an die Telefonnummer unseres besten Freundes aus der Kindheit erinnern. Bjorks Forschung hat aber gezeigt, dass falls wir an diese Nummer erinnert würden, wir sie viel schneller und besser wieder behalten können, als eine andere, neue Telefonnummer.
Das menschliche Hirn verfügt also über unlimitierten Speicherplatz. Falls wir aber tatsächlich alles aktiv behalten würden, würde uns das massiv verlangsamen. Wir „vergessen“ deshalb beispielsweise Telefonnummern, die wir nicht mehr benötigen, um den Zugriff auf aktuelle Nummern zu beschleunigen. „Vergessen“ heisst aber nicht, dass das Wissen nicht mehr im Kopf wäre, es heisst bloss, dass der Zugriff darauf momentan nicht, oder nicht so gut, möglich ist.
Auch das Internet hat unlimitierten Speicherplatz. Die global verfügbare Datenmenge verdoppelt sich etwa alle 1.5 Jahre. Dabei versteht sich von selber, dass ein grosser Teil dieser Datenmenge Müll ist. Und gemessen an dem mich interessierenden Teil ist sogar das aller-allermeiste auf dem Internet Informationsmüll. Die Kunst besteht nun darin, das Internet dazu zubringen, sich bloss an das relevanten Wissen zu „erinnern“. Mit anderen Worten muss ich das für mich relevante Wissen aus dem Datenhaufen Internet fischen. Üblicherweise macht man das mit Suchmaschinen. Üblicherweise heisst diese Suchmaschine Google. Und das hat einen guten Grund!
Google hat nämlich als erste erkannt, dass man die Relevanz einer Webseite nicht feststellen kann, wenn man nur diese eine Webseite anschaut und beispielsweise die Häufigkeit eines bestimmten Begriffes zählt oder feststellt, ob der gesuchte Begriff im Titel, am Anfang oder Ende oder bloss in den Fussnoten des Textes vorkommt. Die Relevanz einer Webseite ergibt sich vielmehr aus dem Gesamtzusammenhang: Google begann damit, die Links zu zählen, die auf eine Webseite zeigen. Je mehr Links auf eine Webseite zeigen, desto relevanter ist sie.
Google hat also erkannt, dass das Internet ein Abbild des menschlichen Gehirns ist. Auch im Hirn wird Wissen gespeichert. Und wir behalten diejenigen Wissensinhalte aktiv im Gedächtnis, die mit möglichst vielen anderen Wissensinhalten verknüpft sind. Relevante Wissensinhalte sind also die, die in unserem Hirn durch möglichst viele Synapsen mit anderen Wissensinhalten verbunden sind.
Wenn auf dem Internet eine Webseite an Relevanz verliert, dann zeigen immer weniger Links auf sie. Die Webseite bleibt erhalten, es wird bloss immer schwieriger, sie zu finden. Und so passiert es auch in unserem Kopf. Das Wissen bleibt immer erhalten, bloss der Zugriff, das Erinnern, wird bei „vergessenen“ Inhalten erschwert.
Das menschliche Hirn kennt noch eine andere Form des Vergessens: Traumatische, unangenehme oder peinliche Situationen können verdrängt werden. Weil man es nicht erträgt, sich daran zu erinnern, „vergisst“ man diese Situationen. Wenn die verdrängten Erlebnisse unverarbeitet sind, so das psychologische Küchenwissen, dann sind diese Inhalte eine tickende Zeitbombe. Irgendwann holen sie einem ein.
Die EU fordert nun ein „Recht auf Vergessen“ im Internet. Sie meint damit aber nicht das über längere Zeit langsame Verschwinden von Links im Internet. Nein, was die EU fordert ist die Möglichkeit eines proaktiven Vergessens von Inhalten auf dem Internet. Definitives Vergessen, eben Löschen, geht aber weder im Hirn noch im Netz. Das richtige Wort wäre „Verdrängen“, gefordert wird nämlich vielmehr ein „Recht auf Verdrängen“.
Die Möglichkeit des Verdrängens per Gesetzt im Internet einführen zu wollen ist eine schlechte Idee. Dann wie im Hirn schafft man sich damit auch im Netz keine Lösung – im Gegenteil! Daten, die „gelöscht“ wurden, werden durch diesen Vorgang nämlich plötzlich viel interessanter und damit werden „verdrängte“ Inhalte auch im Netz zu einer Zeitbombe…
Sich alles merken wär‘ vermessen,
Es braucht zum Wissen das Vergessen.
Es löschen geht nicht, trotz anstrengen,
Was höchstens geht ist das Verdrängen!
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