Es gibt Lügner und der Wahrheit verpflichtete Menschen. Beide akzeptieren die Autorität der Wahrheit, jedoch auf unterschiedlichen Seiten. Der der Wahrheit verpflichtete Mensch lässt sich von dieser Autorität leiten, der Lügner hingegen weist sie zurück und lehnt sie ab.
Es gibt aber noch eine dritte Sorte Menschen: den Bullshitter, welchen der Philosph Harry G. Frankfurt in seinem Buch On Bullshit (deutsch: Bullshit) beschreibt. Der Bullshitter lehnt die Autorität der Wahrheit nicht ab, er beachtet sie einfach nicht. Er beteiligt sich nicht am Spiel um die Wahrheit, es geht ihm überhaupt nicht um Tatsachen, sondern nur darum, ob eine Behauptung in seinen Kram passt. Der Bullshitter bemüht sich nicht in erster Linie um eine richtige Darstellung der Welt, sondern es geht im ausschliesslich um eine Darstellung seiner selbst. Er bestimmt sich selber als Referenzpunkt, nicht die Welt an sich.
Die Produktion von Bullshit wird dann angeregt, wenn ein Mensch in die Situation gerät, über ein Thema zu sprechen, das seinen Wissensstand übersteigt. Besonders gravierend wird das jeweils vor demokratischen Wahlen und Abstimmungen. Da wird jeder mündige Bürger moralisch verpflichtet, eine Meinung zu haben, und diese mittels Wahl- oder Abstimmzettel an der Urne kund zu tun. Die durch diese moralische Pflicht angeregte Produktion von Bullshit lässt sich im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen beispielsweise an Stammtischen und im Fernsehen beobachten.
Dass es gegenwärtig sehr viel Bullshit gibt, hat verschiedene Ursachen. Eine liegt darin, dass die uns dank Internet zur Verfügung stehende Information in keinem Verhältnis steht zu unserer Fähigkeiten, diese Information einzuordnen und kognitiv zu verarbeiten. Verschärft wird das ganze durch nie dagewesene Kommunikationsmöglichkeiten, mit denen jedermann zu jedem und allem seine Meinung kundtun kann.
Oft merken wir nicht, wenn ein Thema unseren Wissensstand übersteigt. Das lässt sich mit dem Dunning-Kruger-Effekt erklären. Dieser bezeichnet das Phänomen, dass inkompetente Menschen ihr Wissen häufig über-, das Wissen von kompetenten Personen hingegen meist unterschätzen.
Aus dem bis dahin gesagte müsste man schlussfolgern, dass eine Aussage zu einem Thema nur dann sinnvoll ist, wenn man möglichst vollständige Kenntnis des Themas hat. Absolute Kenntnis des Gegenstandes vorauszusetzen wäre lebensfremd, es kann also immer nur um eine relative Kenntnis gehen.
Daraus leitet sich die Frage ab, wie gross denn die Kenntnis des Themas sein muss. Und da muss die Antwort zweigeteilt sein: Wenn einem bewusst ist, dass man wenig weiss über ein Thema, dann unterliegt man nicht dem Dunning-Kruger-Effekt und kann nicht bullshitten. Wenn man weiss, dass man nicht (viel) weiss, bleibt man ja der Wahrheit verpflichtet. In diesem Fall darf man also ruhig über das Thema reden – meist wird das eh im Konjunktiv geschehen.
Wenn man hingegen nicht weiss, dass man nicht (viel) weiss, dann ist es gefährlich, dann ist bullshitten fast unausweichlich. Allerdings sieht man die Gefahr leider nicht, oder sie ist einem egal. Darum können wir zuversichtlich festhalten, dass Bullshit nicht aussterben wird.
Und wie sieht es denn aus mit Wahlen und Abstimmungen? Bei Wahlen wissen wir in der Regel viel zu wenig über die zu wählenden Personen. Und wir müssten auch wissen, dass wir nichts wissen. Und bei Abstimmungen ist es in der Regel dasselbe – auch da sind die Sachfragen oft hochkomplex und durch widersprüchliche Expertenmeinungen gestützt so dass der Laie damit hoffnungslos überfordert ist. Fazit also: Verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger, also solche, die sich Autorität der Wahrheit verpflichtet fühlen, nehmen an Wahlen und Abstimmungen nicht teil. Wem es hingegen nur um die Darstellung seiner selbst geht, der wählt und stimmt ab. Und darum produzieren Wahlen und Abstimmungen in der Regel Bullshit.
Merksatz:
Auch der Lügner richtet sich
nach der Wahrheit eigentlich.
Doch wer Bullshit von sich gibt
ist nur in sich selbst verliebt.
was wäre denn so etwas wie “ die Autorität der Wahrheit“?
und woraus schliesst du, „dass es gegenwärtig sehr viel Bullshit gibt“?
ich bezweifle z.b., dass heute mehr „gebullshitet“ wird als füher (siehe stammtisch und dorfvereinsdiskussionen etc.)
bei wahlen geht es meiner meinung nach nicht um wahrheit. wahrheit ist kein zu erreichnder status oder konstrukt. auch in der wissenschaft gibt es keine eigentliche wahrheit. vielmehr wird in der wissenschaft die these als „wahr“ angenommen, die am meisten phänomene erklärt, also am meisten aufklärung bietet. sobald die masse an unerklärter phänomene gross genug ist, bahnt sich einen neue „wahrheit“ an (siehe paradigmenwechsel). bei wahlen geht es nicht um wahrheit, sondern darum, die zukunft zu gestalten. natürlich kann niemand die zukunft voraussagen, aber wir können anhand von tendenzen in ungefähr einschätzen, was kommen könnte, und anhand von wahlen sollte erhoben werden, was ein volk will. es geht also bei wahlen mehr um wollen (aus psychologischer perspektive würde ich meinen, es geht mehr um gefühle) als um wahrheit.