Ich las kürzlich mal wieder in einem Buch von einem meiner Lieblings-Philosophen, Alan Watts, über die Illusion des Ich – naja, der Mensch lebt ja bekanntlich nicht vom Brot allein…
Alan Watts plädiert darin für ein grundlegend neues Verständnis unserer Existenz. Das Buch wurde 1966 geschrieben, also kurz vor der Erfindung des Internets. Genau vierzig Jahre später, am 21. März 2006, wurde der erste Tweet durch den Twitter-Mitgründer Jack Dorsey verschickt.
Beim Wiederlesen des Buches ist mir aufgefallen, dass viele der Anregungen von Watts mit Twitter umgesetzt und auch für ein philosophisch uninteressiertes Publikum erkennbar gemacht wurden. Wir sind heute in der Lage, mit Hilfe von Twitter eine mystische Erfahrung zu machen – oder vorsichtiger ausgedrückt: zu erahnen.
Watts bezieht sich auf die Vedanta, eine 2’800-jährige Richtung der indischen Philosophie. Deren Grundanliegen besteht darin, durch Versuche und Erfahrungen die Illusion zu zerstören, der Einzelne sei ein isoliertes Ich. Letztlich ist alles eins und untrennbar miteinander verbunden. Das können wir im Internet ganz deutlich erleben. Was immer wir tun, wir tun es zwangsläufig im Netz. Alles hängt mit allem Zusammen. Bewegungen (Movements) und Hypes (mehr dazu habe ich hier geschrieben) entstehen, weil das Netz es so will. Überdies, das zeigt uns beispielsweise Derek Sivers in seinem sehenswerten Ted-Talk, wird die Rolle des Erzeugers eines Hypes, des Leaders, massiv überschätzt. Sievers argumentiert sehr anschaulich, dass es erst die Anhänger sind, der einen „einsamen Irren“ zu einem Leader machen. Es ist nicht der Leader, der eine Bewegung verursacht, es sind die Anhänger. Auch hier ist es also nicht das isolierte Ich, dass etwas bewirkt (auch wenn dass all die Internet-Stars gerne hätten), sondern die Gesamtheit.
Twitter generiert immer wieder Hypes und zeigt damit immer wieder, dass dafür nicht jemand alleine verantwortlich sein kann, sondern Twitter insgesamt, alle Twitterer zusammen. Und solche Hypes haben durchaus Sprengpotential, wie man das im Iran 2009 oder im arabischen Frühling 2011 sehen konnte.
Watts argumentiert weiter, dass wir mit unserer bewussten Aufmerksamkeit die Welt fragmentieren. Gemäss Vedanta ist alles Eins, aber wir zerlegen sie fortwährend in getrennte Dinge, Ereignisse, in ursächliche Zusammenhänge. Wir wählen dazu aus, was uns interessant und wichtig erscheint und benennen diese Dinge dann. Unsere bewusste Aufmerksamkeit ist deswegen gleichzeitig Ignoranz. Sobald wir die bewusste Aufmerksamkeit auf etwas richten, blenden wir dabei (zwangsläufig) ganz viele andere Sachen aus. Wo ist das augenfälliger als auf Twitter? Die dort in jedem Augenblick publizierte Fülle an Tweets kann gar nicht in ihrer Gesamtheit erfasst werden, man muss auswählen und bezeichnen. Letzteres macht man auf Twitter mit dem Hashtag #.
Damit wird klar, dass Gegensätze bloss unterschiedliche Ansichten derselben Sache sind. Ohne Ignoranz kann es keine Aufmerksamkeit geben – ohne Dunkel kein Licht, ohne Geräusche keine Stille und ohne Tod auch kein Leben.
Twitter als zugespitztes Beispiel des World Wide Web wird also zur Religion der westlichen Welt im beginnenden dritten Jahrtausend. Und die Bibel dieser Religion ist das Smartphone. Es verkündet Wahrheit und Sinn. Was andere Kulturen mit der Religion geschafft haben, das schafft unsere Kultur die Wissenschaften und die Technik, deren populärer Höhepunkt das World Wide Web, betrachtet durch ein Smartphone ist.
Überflüssig zu erwähnen, dass ich das Buch von Watts mit der Kindle-App auf meinem Smartphone gelesen habe…
Wir unterliegen eben schon
Einer grossen Illusion
Und glauben unser ‚Ich‘ getrennt
Vom Erdenrund und Firmament.
17/52