Vor der Erfindung der Schrift und des Alphabetes lebt der Stammesmensch in einer rein mündlichen, akustischen und damit mystischen Welt. In einer solchen Welt ist alles im Fluss, so eine Welt kann man nicht festhalten. Geräusche und Töne bestehen nur in der Zeit und können nicht „eingefroren“ und aufbewahrt werden, wie das für ein Bild möglich ist. Die Welt und die Erfahrung derselben ist zu dieser Zeit also, könnte man sagen, „eindimensional“. Alles ist in der Gegenwart, alles ist im Fluss, alles ist Prozess. Diese Erfahrungsdimension ist gekennzeichnet durch die Unmittelbarkeit und die Gleichzeitigkeit. In der heutigen Zeit kennen wir diese Art der Erfahrung vor allem von Cocktailpartys und Familienfeiern.
Mit der Erfindung der Schrift und des Alphabetes kommt der Sehsinn dazu. Noch immer ist alles im Fluss, also akustisch, aber es ist möglich, bestimmte Gegebenheiten festzuhalten, aufzuschreiben und damit aufzubewahren. Die beiden Welten hängen noch eng zusammen. In der Antike und im Mittelalter heisst lesen beispielsweise laut lesen: Man liest mit den Ohren. Die rechte Hirnhälfte, die akustisch und sequentiell ist, wird nach und nach mit der linken, der visuellen und räumlichen ergänzt. Zum mündlichen Raum kommt also mit der Schriftlichkeit die zweite „Erfahrungsdimension“ des visuellen Raumes hinzu. Heutzutage pflegen wir diese Art der Erfahrung mit Post-it-Zettelchen.
Mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert tritt lautes Lesen nach und nach in den Hintergrund. Man neigt zunehmend dazu, Lippenbewegungen und Murmeln beim Lesen als Halbbildung zu interpretieren. Der Sehsinn wird zum zentralen Sinn. Wissen ist kein Prozess mehr, sondern ein Produkt, eben ein Buch, das man besitzen kann. Die Idee der geistigen Urheberschaft entsteht in dieser Zeit. Die Tragbarkeit des Buches trägt zudem zur Individualisierung bei. In der Renaissance beginnt sich die perspektivische Darstellung in der Malerei durchzusetzen. Es wird üblich, einen Standpunkt zu haben, wörtlich und im übertragenen Sinne. Der Erfahrungsraum wird also „dreidimensional“: Neben dem Hören und Sehen kommt in der gedruckten Welt der eigene Standpunkt hinzu. Wir pflegen auch heute, leicht angepasst, die gedruckte Erfahrungswelt noch: Man denke an Hochzeits- oder Geburtskärtchen, wo man nach aussen einen (neuen Standpunkt) bezieht, als Ehegatten oder Eltern.
Gegenwärtig sind wir, nach der mündlichen, der schriftlichen und der gedruckten in der vierten Erfahrungsdimension angekommen, der elektrischen. Diese schliesst die vorherigen drei Dimensionen mit ein: Der eigene Standpunkt, der es einem erlaubt, die Unmittelbarkeit des akustischen Raumes primär visuell wahrzunehmen. Die drei bekannten Dimensionen „krümmen“ sich jetzt in eine neue Richtung:
Im Internet lesen wir nicht mehr linear, wie das in der gedruckten Erfahrungsdimension der Fall war. Dank Hypertext hüpfen wir von Fragment zu Fragment. Im Internet werden geschriebene Texte also tendenziell so wahrgenommen, wie das bin anhin für mündlich überlieferte Texte galt. Das geschriebene Internet ist eine Welt der Gleichzeitigkeit und der Unmittelbarkeit, beides Eigenschaften einer akustischen Welt.
Auch der eigene Standpunkt bekommt eine völlig neue Qualität. Die physische Welt ist überlagert von einem virtuellen Layer. Diese virtuelle Welt ist aber völlig individualisiert. Während wir unsere physischen Erfahrungen untereinander abgleichen können, ist das in der virtuellen Welt nicht mehr möglich. Jeder ist gefangen in seiner eigenen Bubble, die ihm nur das zeigt, was in seiner Welt passt.
Wir sind also gegenwärtig in einem Erfahrungs-Hyperraum in der vierten Dimension. Der Vergleich mit den Dimensionen ist passend, denn die vierte Dimension kann man sich nicht richtig vorstellen. Und was im Moment mit unserer Erfahrungswelt passiert, das verstehen wir auch (noch?) nicht. Aber wir haben eine Ahnung davon, genauso, wie wir auch eine Ahnung von einem 4-dimensionalen Objekt haben können:
Die erste Dimension ist die Linie. Die zweite Dimension ist die Fläche, die dritte der Würfel. Und die vierte Dimension, das ist der Tesserakt. Ein 4-dimensionaler Würfel sozusagen. Man kann ihn nicht darstellen, weil uns dazu eine Dimension fehlt, aber man kann ihn erahnen, indem man ihn auf eine Fläche projiziert. Und so richtig lebendig wird er, wenn er dazu noch rotiert. Ein Würfel, der rotiert, tut das um eine Achse. Ein Tesserakt, der rotiert, tut das um eine Fläche – logisch, eine Dimension mehr! Und das sieht dann so aus:
Oder so, wenn der Tesserakt sogar um zwei Flächen rotiert:
Diese beiden Animationen eignen sich sehr gut, um über unsere gegenwärtige Erfahrungs- und Erlebniswelt, wo wir ebenfalls die vierte Dimension betreten haben, zu meditieren und gedanklich herumzuspielen.
Allenfalls kann es für das Verständnis hilfreich sein, wenn man sich die Gedanken nach einer rauschenden Cocktailparty macht…
An Cocktailpartys redet man,
Auf Post-it’s schreibt man’s auf sodann,
Und druckt die eig’ne Position.
Und jetzt? Die vierte Dimension!
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Literatur:
- Backer Dirk, Studien zur nächsten Gesellschaft
- McLuhan Marshall, Die Gutenberg-Galaxis: Die Entstehung des typographischen Menschen
- Ong Walter J., Orality and Literacy (New Accents)
die analogie mit den raum-dimensionen scheint mir nicht ganz passend, da wir uns eine 4. raum-dimension nie werden vorstellen können, jedoch eine 4. „mediale“ demension, wir uns nur darum nicht vorstellen können, weil sie sich noch nicht vollständig entfalltet hat und wir erst frühe anzeichen erkennen können.
zudem würde ich die 4. „dimension“ nicht als elektrisch sondern als digital bezeichnen. nicht die das elektrische signal allein hat die welt verändert, sondern die möglichkeit jegliche geistige inhalte (content) in digitale pakete zu konvertieren, die dann elektronisch übermittelt werden können. mit anderen worten, nicht das telegramm oder das morsen haben die art der kommunikation verändert, sondern der computer als codiermaschine und kopiermaschine (konvertierungsmaschine?).