Richtig oder falsch, wahr oder gelogen, schön oder hässlich – vielen Leuten fällt es leicht, zu urteilen: weisse Socken sind hässlich, dass jetzt Winter ist, ist falsch und im Straßenverkehr kreuzt man sich richtigerweise rechts. Allerdings passen weisse Socken beim Tennis, ist es in Australien jetzt Winter und Autos kreuzen sich ebendort links. Vermeintliche Gewissheiten werden also je nach Kontext plötzlich ins Gegenteil verkehrt. Was richtig, wahr oder schön etc. ist, kann nicht absolut formuliert werden, sondern immer nur in Abhängigkeit vom Kontext. Entsprechend handelt es sich um blosse Konventionen. Und Konventionen kann man anpassen.
Die genannten Beispiele sind natürlich vergleichsweise trivial. Wie aber sieht es mit den grossen Wahrheiten aus, mit life, the universe and everything? Wenn der Sinn des Lebens klar definierbar wäre, bräuchte es weder verschiedene Religionen noch würde deswegen Krieg ausbrechen. Wenn die Vergangenheit und die Zukunft des Universums zweifellos bekannt wären, bräuchte es weder Physiker noch physikalische Theorien.
Es gibt aber keine absoluten Werte, alles ist verhandelbar, dynamisch und einem stetigen Wechsel unterworfen. Alles ist abhängig vom Kontext, auch unsere eigene Meinung. Mehr als Konventionen gibt es nicht. Wäre das anders, dann wäre das Leben sehr langweilig.
Das ist schwer zu akzeptieren, denn wir wollen Gewissheit und streben nach der letzten Wahrheit: In der Religion nach einem allwissenden Gott und in der Physik nach einer letzten Formel, die alle Theorien zusammen bringt – oder wenigstens nach dem Higgs-Boson.
Nach diesem winzigen Teilchen wurde im milliardenteuren, hochkomplexen Teilchenbeschleuniger am CERN in Genf fieberhaft gesucht. Das Higgs Boson ist nämlich das Teilchen, welches das Standardmodell der Physik bestätigen soll. Sinnigerweise wird dieses Teilchen (vor allem in den Medien) auch ‚Gottesteilchen‘ genannt.
„Das Standardmodell der Physik“ ist sehr klug formuliert, denn es geht eben nicht um die Weltformel, sondern ‚nur‘ um die Bestätigung eines Modells – oder anders gesagt: um die Bestätigung der gegenwärtig in der Physik vorherrschenden Konvention!
Die letzte Wahrheit, die einzige Gewissheit lautet auch in der Physik: Alles ist im Wandel, alles ist im Fluss, und wenn etwas dann doch einmal greifbar sein sollte, dann ist es bloss eine Konvention, ein Modell – eine Mode.
Und so ist es auch im täglichen Umgang miteinander. Jeder lebt in seiner sozialen Umwelt, seinem Kontext und folgt den dort geltenden Konventionen. Streit entsteht, wenn die Konventionen nicht zusammen passen. Um herauszufinden, auf welche Konvention man sich einigen soll, ist es häufig nötig, das „zwischenmenschliche Higgs-Teilchen“ zu finden, das die eine oder andere oder (meistens!) eine dritte Konvention bestätigt. Das Higgs-Boson ist das Körnchen Wahrheit, das zwischen Streit und Friede entscheiden kann.
Das Internet, und darin sehe ich eine grosse Chance, schafft einen einheitlichen Kontext und damit die Möglichkeit, sich gemeinsam auf Konventionen zu einigen. Zumindest legt das Internet unterschiedliche Kontexte offen und erleichtert das gegenseitige Verständnis.
So gesehen ist das Internet der Teilchenbeschleuniger, das uns hilft, das Higgs-Boson für eine friedliche Welt nicht nur zu finden, sondern sogar zu machen!
Weltenfriede und Physik, beiden fehlt im Augenlick nur ein winzig kleines Teil. hat man’s, sind sie beide heil.
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