Woher kommen gute Ideen?

Im Buch Where Good Ideas Come From: The Natural History of Innovation beschreibt der Schriftsteller und Redner Steven Johnson, wie gute Ideen zustande kommen. Seine Erkenntnisse fasst er in 7 Mustern zusammen, die er aus der Kultur-, Natur- und Wissenschaftsgeschichte der Menschheit ableitet.

Er zeigt dabei eindrücklich, dass der „Heureka-Moment“, die plötzliche bahnbrechende Erkenntnis, ein Mythos ist. Vielmehr entstehen Ideen „organisch“, sie wachsen langsam heran. Und wie Pflanzen müssen auch sie gehegt und gepflegt werden. Dabei gibt es sieben Bereiche, die berücksichtig werden müssen:

1. Das nahe liegende Mögliche (the adjacent possible)

Das nahe liegende Mögliche kann man sich als folgendermassen vorstellen: Mit unserem gegenwärtigen individuellen und auch kollektiven Kenntnis- und Wissensstand befinden wir uns in einem Raum, von dem weitere Türen abgehen. Jede dieser Türen geht in einen neuen (Ideen-)Raum, den man noch nicht besucht hat. Diese vier Räume sind das nah liegende Mögliche. Sobald man jedoch eine Türe aufmacht und in den nächsten Raum vordringt, erscheinen neue Türen, die vom ursprünglichen Raum aus noch nicht erreichbar waren. Und so geht das immer weiter, eine Türe nach der anderen wird aufgestossen, die Entwicklung geht unaufhaltsam weiter…

Das nahe liegende Mögliche besagt also, dass jederzeit aussergewöhnliche Veränderungen möglich sind, aber nur gewisse Veränderungen auch tatsächlich auftreten können. Diese Aussage lässt sich anhand der Geschichte des technischen Fortschrittes relativ einfach überprüfen. Zudem werden sogenannte multiple Erfindungen erklärbar: Sobald eine Erfindung nur noch einen Raum entfernt ist, steigt die Wahrscheinlichkeit stark, dass mehrere Leute unabhängig voneinander die Türe in diesen Raum Türe aufstossen.

Beispiel für multiple Erfindungen ist das Telefon: Elisha Gray und Graham Bell haben beide am 14. Februar 1876 das Telefon zum Patent angemeldet, Gray drei Stunden vor Bell. Dass das Telefon Bell zugeschrieben wurde und nicht Gray hängt damit zusammen, dass nach heftigen Streitereien und gegenseitigen Vorwürfen der Spionage (die sich allerdings nie erhärteten) Gray seinen Patentantrag zurück zog. Er war schlecht beraten von seinem Anwalt, der ihm riet, die Klage zurück zu ziehen, da seine Erfindung es nicht Wert sei.1

Finde Möglichkeiten, die Ecken des uns umgebenden Idee-Raumes zu erforschen. 

2. Flüssige Netzwerke (liquid networks)

Aus dem Bild mit den nahe beieinander liegenden Räumen ergibt sich auch, dass Ideen immer Netzwerke sind. Sie entstehen nicht aus dem Nichts, sondern „wachsen“ langsam heran, Türe für Türe. Ideen entstehen durch Austausch sich frei bewegender Elemente. Wo immer Menschen zusammen kommen, entsteht Neues. „Flüssig“ muss das Netzwerk deshalb, weil eine gewisse Nähe der einzelnen Menschen notwendig ist – gasförmig wäre also zu weitschweifig und unverbindlich, ohne Rahmen und Grenze, und der feste Zustand hingegen ist viel zu starr um einen  Austausch zu ermöglichen.

Solche flüssigen Netzwerke können auch durch Architektur begünstigt werden. Ein(C) http://www.eecs.mit.edu/pictures/bldg20_I.jpg schönes Beispiel ist das legendäre Building 20 am MIT, das 1943 als Provisorium erstellt wurde – und dann doch erst 1989 einem neuen Gebäude Platz machte. Weil dieses Gebäude nicht auf Dauer angelegt war, war er sehr einfach, das Innenleben neuen Gegebenheiten anzupassen. Wände konnten relativ einfach verschoben oder ganz entfernt werden. Damit konnte sich dieses Gebäude ganz einfach neuen Gegebenheiten anpassen und die notwendigen Netzwerke flüssig behalten. Neue kreative Teams konnten sich also einfach formieren und produktiv zusammen arbeiten. Trotz der fortschrittlichsten Technik bleibt die produktivste Möglichkeit, neue Ideen zu generieren, eine Gruppe von Menschen in einem Raum!

Sei in verschiedenen Netzwerken aktiv, on- und vor allem auch offline.

3. Die dunkle Ahnung (the slow hunch)

Gemeinhin geht man davon aus, dass man gute Ideen plötzlich hat – in Form eines „Heureka-Moments“ oder eines Geistesblitzes. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Dass Newton auf die Gravitationstheorie kam, nachdem ihm ein Apfel auf den Kopf gefallen war, ist eben nur ein Teil der Wahrheit. Den meisten seiner Zeitgenossen hätte man Kokosnüsse an den Kopf werfen können, die Idee der Schwerkraft wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen. Damit man so eine Moment der Erleuchtung erleben kann, muss man sich schon viel länger mit dem Problem auseinander gesetzt haben -Newton hatte sich schon jahrelang mit der Physik auseinander gesetzt. Und er hat schon lange eine Ahnung, etwas, was in seinem Hinterkopf lauerte und über das er immer und immer wieder nachgedacht hatte.

Damit aus solchen dunklen Ahnungen bahnbrechende Ideen werden können, müssen sie in erster Linie festgehalten werden. Es ist also unumgänglich, ständig ein Notizbuch mit sich herum zu tragen und darin alles festzuhalten, was einem durch den Kopf geht. Darwin kam auf die Evolutionstheorie auch deshalb, weil er sehr eifrig Notizen verfasst hat. Er führte immer ein sogenanntes „commonplace book“, wie sie zur damaligen Zeit in Mode waren. Darin wird alles notiert, was einem begegnet.

Wichtig ist, dass in diesen Notizbüchern eine Spannung zwischen Ordnung und Chaos aufrecht erhalten wird. Ein wenig Ordnung ist notwendig, damit die Notizen wieder aufgefunden werden können. John Locke, der die commonplace-books-Tradition 1652 begründete, hat dazu eine geniale Indexstruktur entwickelt. Chaos auf der anderen Seite ist notwendig, damit Ideen interagieren können. Was für Einträge sich nebeneinander finden, ist völlig zufällig und lässt Raum für überraschende Assoziationen. Diese werden dann als neue Notiz erfasst – und so wird die dunkle Ahnung weiter am Leben erhalten, wird sie kombiniert mit neuen Erkenntnissen und entwickelt sich langsam weiter und reift heran, um schliesslich zu genialen Idee zu werden.

Ein letzter Punkt: es empfiehlt sich, diese Notizen auch per Hand zu erfassen:

In the digital agedon’t forget to use your digitsYour hands are the original digital devices.” —Lynda Barry

Natürlich kann das mit den Segnungen des Internets (zum Beispiel Memonic oder Evernote) und des Web 2.0 (zum Beispiel SlowHunch) ergänzt werden.

Führe ein unordentliches Notizbuch und lies die Einträge regelmässig nach.

4. Glücklicher Zufall (serendipity)

Wenn das Leben gut läuft, empfiehlt es sich, das, was man tut, weiterhin zu tun. Es macht in dieser Situation keine Sinn, etwas zu verändern. Wenn es aber mal nicht mehr so rund läuft, dann braucht es Innovation. Und Innovation, Ideen, entstehen, wie dargelegt, durch überraschende Verbindungen. Überraschende Erfindungen, die zu einer guten Idee führen, kann man auch als glückliche Zufälle bezeichnen. Bei Ideen spielen sich diese überraschenden Zufälle meist im Hirn ab: neue überraschende Neuronenverbindungen entstehen und führen zu bahnbrechenden Erkenntnissen. Damit die bedeutungsvollen Neuronenverbindungen sich nicht sofort wieder unbemerkt auflösen, müssen sie geankert werden. Anker sind die dunklen Ahnungen (s. oben) – an ihnen kristallisieren sich die Ideen aus.

Die Frage ist nun, wie man das Hirn dazu bringen kann, neue Neuronenverbindungen entstehen zu lassen. Eine Möglichkeit ist, spazieren zu gehen und dabei auch die Gedanken wandern zu lassen. Dabei arbeitet das Hirn im Hintergrund weiter. Auch Lesen ist eine Möglichkeit, wie neue Ideen und Perspektiven transportiert werden. Diese neuen Ideen können sich im Hirn dann mit den vorhandenen dunklen Ideen vermischen. Bei diesen Tätigkeiten ist das Hirn in der Lage, neue Verbindungen zu schaffen und so die Entstehung von Ideen zu begünstigen und die Wahrscheinlichkeit glücklicher Zufälle zu erhöhen.

Bewege dich öfter draussen - und nimm ein Buch mit.

5. Fehler (error)

Fehler zu machen ist unumgänglich – und notwendig. Häufig führen gerade Fehler zu grossartigen Einsichten und genialen Ideen. Forschungen haben gezeigt, dass mehr gute Ideen in Umgebungen entstehen, die ein gewisses Mass an Lärm und Fehler enthält. Diese Erkenntnis ist counter-intuitv.

Irren ist nicht nur menschlich, Irrtum war es auch, der Leben überhaupt ermöglichte. Die Evolution funktioniert nämlich nur, wenn es gelegentlich Mutationen, also eben Fehler in der Reproduktion gibt. Häufig sind es dann genau diese Fehler, die neue Möglichkeiten eröffnen und zur Entstehung des Lebens im Meer und schliesslich zur Entstehung all der Lebewesen auf unserem Planten geführt haben. Offenbar ist die Mutationsrate beim Menschen so gross, dass jedes Mal, wenn Eltern ihre DNS den Kindern weitergeben, diese genetische Erbschaft 150 Mutationen aufweist. Oder anders gesagt, eben 150 Fehler hat.

Bei Bakterien hat man überdies beobachtet, dass sie die Mutationsrate erhöhen, wenn die Energieversorgung knapp wird. Ähnliches konnte man auch in der Internetindustrie feststellen zur Zeit der Dotcom-Blase: Die Losung damals lautete: fail faster.

Vielleicht ist die Geschichte der menschlichen Fehler wertvoller, als die der Entdeckungen. Benjamin Franklin brachte es so auf den Punkt:

Truth is uniform and narrow; it constantly exists, and does not seem to require so much an active energy, as a passive aptitude of soul in order to encounter it. But error is endlessly diversified.

Lass Fehler zu und freue dich über sie.

6. Exaption (exaptation)

Die Druckerpresse, die Gutenberg im 16. Jh. erfand, war mehr Bastelei als Durchbruch. Alle Elemente gab es schon, die beweglichen Lettern, die Tinte und auch das Papier waren bereits erfunden. Gutenbergs Genie bestand darin, diese bestehenden Elemente mit der Presse zu kombinieren. Auch Pressen gab es damals schon, allerdings nicht zum Drucken, sondern zum Auspressen der Reben bei der Weinherstellung. Dass Gutenberg Elemente aus einer Ideen-Welt (Weinherstellung) in der Welt des Druckens angewendet hat, macht sein Genie aus. Diese Adaption von fremden Elementen in einer neuen Ideen-Welt nennt Johnson Exaption – ein Kunstwort aus „Adaption“ mit dem neuen Präfix „Ex-“ für „aus, heraus“.

Ähnliche Prozesse sind auch in der Natur zu beobachten. So diente die Feder ursprünglich dazu, zu wärmen. Die Vorfahren des Urvogels Archaeopteryx begannen dann offenbar, mit der Fliegerei zu Experimentieren. Die Feder war adaptiert für Wärme und wurde exaptiert zum Fliegen.

Während Mutationen und Fehler und glückliche Zufälle Türen in das nahe liegende Mögliche eröffnen, können wir mit Exaption die Möglichkeiten erkunden, die hinter diesen Türen lauern.

In der Internetwelt ist dieses Phänomen sehr häufig zu beobachten. Zum Beispiel Twitter, ein Dienst der ursprünglich als Entwicklungsprojekt zur internen Kommunikation geschaffen wurde, wurde als politische Waffe der Oppositon bei den iranischen Wahlen exaptiert. Eine Idee, die in einem Ideen-Raum (interne Kommunikation) entwickelt wurde, kann in einen neuen Ideen-Raum (Politik) exaptiert werden und dort unerwartete Möglichkeiten eröffnen.

Sei in verschiedenen Ideen-Räumen aktiv.

7. Plattformen (platforms)

Plattformen ermöglichen nicht nur das Öffnen von Türen in neue Räume, Plattformen schaffen neue Stockwerke.

In der Natur sind beispielsweise Biber solche Plattform-Erschaffer. Sie fällen Bäume und stauen Wasser. Dadurch entsteht ein Sumpfgebiet, das zahlreichen anderen Pflanzen und Tieren als Lebensraum dient. Der Biber schafft ein Ökosystem, eine Plattform, die viele weitere Lebensformen ermöglicht.

Im Bereich des Internets ist wiederum Twitter eine solche Plattform. Als einfacher Kurznachrichtendienst konzipiert haben die Macher von Anfang an die Entwicklung von Software rund um die Twitterdaten nicht nur ermöglicht, sondern gefördert. Die Twitterdaten waren von Anfang an offen und ermöglichten die Entstehung eines eigenen „Ökosystems“, des sogenannten Twitterversum.

Auch geschichtlich lässt sich der Einfluss von solchen Plattformen auf die Ideenwelt nachzeichnen: Sei es durch aufkommende Handelsbeziehungen (Sumerer, ca. 2000 v. Chr.), auf dem Marktplatz (Mittelalter) oder in den Kaffeehäusern – wo immer eine neue Plattform geschaffen wurde, führte das zwangsläufig zu einem Entwicklungsschub.

Information fliesst nicht einfach nur in solchen Plattformen, sie wird rezykliert und in in neuen Kontexten wiederverwendet, sie wird transformiert in einem sehr diversen Netzwerk, sei es ökologisch, technisch oder gesellschaftlich.

Finde Plattformen und nutze sie.

Zusammenfassend:

Die Muster sind einfach, aber wenn man sie insgesamt befolgt, führen sie zu einem Ganzen, das mehr ist als die Summer seiner Teile: Gehe auf eine Spaziergang, pflege deine dunklen Ahnungen, schreibe alles auf aber sei chaotisch dabei, nimm unerwartete Zufälle an, mache Fehler, pflege unterschiedliche Hobbies, bewege dich in flüssigen Netzwerken, lass andere deine Ideen weiter verwenden.

Leihe aus, verwende wieder, erfinde neu - borrow, recycle, reinvent

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  1. Kevin Kelly, What Technology Wants, p. 131
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